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Stories » Detail

Roof Stories - Story 9 (Part 1)

von cappuccino007


Roof Stories - Story 9

Wahrheiten
Coming out of the closet

Mit mürrischem Gesichtsausdruck kniete Herr Engelmann vor der demolierten Stoßstange des schwarzen Jaguars und begutachtete den Schaden. Seine Frau stand im Hosenanzug, aber mit Hausschuhen ein Stücken hinter ihm. Genauso wie seine Tochter, die natürlich genau wusste, was letzte Nacht mit dem Wagen passiert war, allerdings nichts davon preisgegeben hatte.
Als ihr Vater nach dem Frühstück kurz nach draußen gegangen war, um die Post herein zu holen, hatte er kurz an dem neu gekauften Wagen Halt gemacht und mit Schrecken festgestellt, dass die hintere Stoßstange nicht mehr so aus sah, wie noch in den Tagen zuvor.
Sofort war er zurück ins Haus geeilt, wo der Rest der Familie durch sein Fluchen von den unglücklichen Neuigkeiten erfuhr. Becky hatte natürlich gewusst, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ihre Eltern den Schaden entdecken würden. Obwohl Milli schon vergangene Nacht auf sie eingeredet hatte, den Unfall doch zu beichten, hatte Becky sich vehement dagegen entschieden ihre Schuld zu bekennen. Sie hatte wirklich keine Lust auf noch mehr Hausarrest, den sie wohl aufgebrummt bekommen hätte.
"Und? Ist es sehr schlimm?", fragte Frau Engelmann beunruhigt, während sie nachdenklich die Hand an den Mund gelegt hatte. Becky Vater seufzte und richtete sich dann langsam auf "Allzu schlimm ist es nicht. Die Beule kriegt man schon wieder raus, nur wird das natürlich ein wenig kosten."
Mit strenger Miene blickte er die Straße lang, die heut weit weniger vollgeparkt war, als üblich. Hinter dem schwarzen Jaguar war eine freie Parklücke und Herr Engelmman sagte, "Vermutlich ist irgendein Blindfisch beim Einparken oder Ausparken drauf gefahren und hat selbst nichts davon gemerkt.“
Bei dieser Vermutung bekam Becky große Augen und pflichtete enthusiastisch bei, "Ja, wahrscheinlich war es echt so! Es gibt doch genug Verkehrsrowdys, die nicht richtig einparken können. Dann kommt sowas eben bei raus."
So ein Mist. Ich hätte den Golf letztens doch aus der Garage fahren sollen und den Jaguar dafür rein…“ murmelte der Geschäftsmann, der die Hände in die Hüfte gestemmt hatte und ein wenig geistesabwesend wirkte. Offensichtlich überschlug er im Kopf wie viel die Reparatur wohl kosten würde. Dann kratzte er sich genervt an der Stirn, "Nun gut. Da wir nicht wissen wer es war, können wir nicht auf Schadensersatz hoffen. Ich mache die kommende Woche schnellstmöglich einen Termin in der Werkstatt aus. Und die Autos parke ich heute noch um!"
Während Herr Engelmann immer noch sauer darüber, dass er nicht schon vorher die Stellplätze der Autos getauscht hatte, in die Garage ging, schlenderte Becky mit ihrer Mutter, die die Arme mürrisch vor der Brust verschränkt hatte, zurück in das Einfamilienhaus.
"So eine Schweinerei!", zischte die Frau mit dem dunkelblonden Haare und blickte über die Schulter noch einmal zu dem vierrädrigen Schmuckstück. Augenblicklich versuchte Becky sie zu besänftigen, "Ärger dich nicht, da kann man jetzt auch nichts mehr machen!"
Zurück im Haus machte sich Frau Engelmann nach wie vor grummelt auf in die Küche um den Frühstückstisch abzuräumen, Becky hingegen ging auf direktem Weg in ihr Zimmer. Eigentlich hätte Becky den ganzen Sonntag Zeit um für die Bioklausur am nächsten Tag zu lernen, doch so früh am Morgen hatte sie noch nicht wirklich Lust dazu. Ihr stand der Sinn mehr danach, eine weitere Folge ihrer aktuellen Lieblingsserie „Orange is the new black“ (eine Show in der es um den teils sehr romantischen Alltag in einem Frauenknast ging) online anzuschauen. Deshalb schaltete sie den Laptop an und begann sich nebenbei umzuziehen Natürlich hatte sie wegen dem Unfall ein schlechtes Gewissen, aber nun hatten ihre Eltern ja eine ganz logische Erklärung für die verbeulte Karosserie gefunden. Somit war sie aus dem Schneider und konnte wieder etwas besser durchatmen.
Plötzlich spürte sie wie in ihrer Hosentasche ihr Handy vibrierte. Als sie den Namen des Absenders las, verdrehte sie genervt die Augen. Es war eine weitere Nachricht von Patrick. Seit dem Vorfall auf seiner Halloweenparty hatte sich Becky nicht mehr bei ihm gemeldet. Auf dieses Arschloch hatte sie keinen Bock mehr. Er hingegen schickte ihr ununterbrochen irgendwelche Nachrichten in denen es hieß, dass es ihm leid tue, was sie mit angehört hatte und dass es sich dabei um ein großes Missverständnis handelte und er ihr in einem Gespräch alles erklären möchte. Becky wusste allerdings nicht, was es da groß zu erklären gab. Was die Unterhaltung zwischen Patrick und seinen unterbelichteten Kumpels betraf, war keine Erklärung nötig. Ohne Patricks Nachricht zu lesen, schmiss Becky das Smartphone auf ihr Bett und widmete gut gelaunt dem Laptop.

Der Regen trommelte hart gegen die Fensterscheibe, durch die kein einziger Lichtstrahl hereindrang und so eine dunkle und ungemütliche Atmosphäre in der Küche erzeugte. Draußen herrschte ein fürchterliches Unwetter, typisch für diese Jahreszeit. Das Grau am Himmel war matt und gleichmäßig. Es wirkte fast so, als wäre dies sein natürlicher Farbton. Dort außerhalb des Küchenfensters versank die Welt in der sowieso alles unsicher war. Aber Monika Dittmann fühlte sich auch hinter der Scheibe nicht sicher. Mit zitternden Fingern zog sie an ihrer bereits dritten Zigarette in Folge und blies entspannt den Rauch zur Decke hoch. Seitdem ihre Tochter ihr noch einmal ganz deutlich gesagt hatte, dass sie in die USA fliegen würde, waren ein paar Tage vergangen. Nun blieb ihr nur noch ein Monat. Und in diesem Monat musste sie ihr wohl oder übel die Wahrheit sagen. Monika wusste, dass Jess sie dann noch mehr hassen würde. Aber sie wollte es nicht riskieren, dass diese möglicherweise wirklich ihren Vater findet und von ihm verfuhr, was Sache war. Frau Dittmann hatte immer gehofft nie in diese Situation zu kommen und dieses Geheimnis mit ins Grab nehmen zu können, doch Jess selbst war der lebende Beweis, dass es im Leben oft anders kam als geplant. Nie hatte sie mit jemandem darüber geredet. Zu sehr schämte sie sich, für das was sie damals getan hatte. Doch nun war es an der Zeit ihrer einzigen Tochter diesen Gräuel zu gestehen. In der kommenden Woche wollte sie sie besuchen und in einem Gespräch alles aufklären. Bis dahin würde sie aber zur Beruhigung noch einige Zigarettenschachteln verbrauchen.

Am Montagnachmittag saß Hanna nachdenklich auf ihre Ellbogen gestützt über das gelbe Reclam-Buch gebeugt und las. Zumindest wirkte es so, denn auch wenn ihre Augen Zeile für Zeile erfassten, nahmen sie doch kein Wort über Werthers Leiden wahr. In ihren Gedanken war sie in der Nacht von Samstag auf Sonntag. Das was sie auf Giselles Halloweenparty und danach mit Fiona erlebt hatte, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.
Ja, sie hatte sich in diese begnadete Billarspielerin mit den eisblauen Augen und den buschigen Augenbrauen verliebt. Und diese allen Anschein nach auch in sie. An der U-Bahn hatten sich die Zombiebraut und das verschmierte Skelett zum Abschied lang und innig geküsst und beide wussten in diesem Moment, dass dies nicht ihr letzter Kuss sein würde. Hanna hatte keine Ahnung ob sie nun zusammen waren oder nicht. Sie wusste lediglich, dass sich das mit Fiona richtig anfühlte. So aufregend und unbekannt und gleichzeitig doch so vertraut. Falls sie aber wirklich zusammen kommen sollten, würde Hanna Fiona natürlich auch gerne mit nach Hause bringen. Und dann wollte sie ihre Eltern nicht darüber anlügen wer Fiona war. Das war ein weiterer Grund, warum das vergangene Wochenende Hanna so beschäftigte. Durch diesen Kuss mit Fiona war ihr einmal mehr bewusst geworden, dass sie lesbisch war und sie dies nicht auf ewig vor ihren Eltern verheimlichen konnte und auch nicht wollte. Genauso wie Jess letztens gesagt hatte.
Miri lag seit dem Wochenende anscheinend mit einer schweren Erkältung im Bett, was Hanna allerdings nicht von dieser selbst, sondern erst in der Schule durch eine andere Klassenkameradin erfahren hatte. Nach wie vor war Miri sauer auf Hanna, weshalb mehr oder weniger Funkstille zwischen den zwei Freundinnen herrschte. Als eine Art gut gemeinter Annäherungsversuch, hatte Hanna ihr geschrieben um ihr den versäumten Stoff und die Hausaufgaben durchzugeben. Obwohl Hanna ihre beste Freundin in der letzten Zeit wirklich links hatte liegen lassen, spielte Miri nach wie vor bei deren Lügenspiel bezüglich dem gemeinsamen Mathelernen mit. Hannas schlechtes Gewissen diesbezüglich wog mittlerweile Tonnen. Sie wusste, dass das alles nicht mehr so weitergehen konnte. Lange genug hatte sie dieses Gespräch heraus gezögert und am liebsten hätte Hanna das wohl auch noch länger, doch sie musste ihren Eltern endlich die Wahrheit sagen.

Mittlerweile musste Becky zugeben, dass sie doch ein schlechtes Gewissen hatte. Ihr Vater war heute Morgen mit dem demolierten Jaguar in die Werkstatt gefahren um den Schaden auch fachmännisch begutachten zu lassen. Auch wenn die Versicherung einen großen Teil der Kosten übernahm und Familie Engelmann somit ein Griff ins Portemonnaie erspart blieb, fühlte sie sich mies. Immerhin zahlte die Versicherung nur deshalb, weil es sich angeblich um einen Unfall mit anschließender Fahrerflucht des Anderen handelte. Tatsächlich konnte man hier von einer Art Fahrerflucht sprechen und Becky fühlte sich immer mehr wie eine Kriminelle. Und dieses Gefühl hatte sie jedes Mal, sobald sie den schwarzen Wagen zu sehen bekam. So wie beispielsweise vorhin, als sie das Haus verließ um sich auf den Weg zu ihrem Nebenjob im Café Mozart zu begeben. Dieser verbeulte Seitenspiegel war wie ein mahnender Zeigefinger, der ihr in Erinnerung rief, wer daran schuld war, dass er so aussah wie er aussah.
Vor ihrem inneren Auge sah Becky sich dann jedes Mal plötzlich in einer, so wie die Frauen in „Orange ist the new black“, orangenen Sträflingskluft, hinter Gittern wieder. Aber sie war sich sicher, dass sich dieses schlechte Gewissen mit der Zeit schon legen würde. Sie versuchte nicht daran zu denken und richtete währenddessen eine weitere Tasse Cappuccino an, während Milli an der Kasse fleißig am abkassieren war. Heute war eine ziemlich durchwachsene Schicht. Vereinzelt verirrten sich ein paar Gäste ins Café, aber gerade so viele, dass es für die beiden Bedienungen nicht zu stressig wurde.
„Hier bitteschön, hier Cappuccino!“, sagte Becky höflich lächelnd und reichte einer älteren Dame mit Cocker Spaniel im Schlepptau die Tasse. Natürlich hatte Milli Becky darüber ausgefragt, wie viel denn der Schaden am Auto betrug und ihre Freundin hatte ihr nicht gerade begeistert davon Bericht erstattet.
„Aber du kannst echt froh sein, dass die Versicherung das zahlt. Stell dir mal vor, deine Eltern hätten das alles zahlen müssen!“, griff die kleine Blondine das Thema wieder auf und Becky, die die Gäste des Cafés beäugte sagte gelangweilt, „Ja, die wären nicht erfreut gewesen. Aber zum Glück ist es ja nicht so.“
Milli schaute Becky unter ihrer purpurroten Cap kritisch von der Seite an, „Becky findest du das echt nicht dreist? Die Versicherung zahlt für einen Schaden, der nicht so zustande gekommen ist, wie alle denken. Hast du kein schlechtes Gewissen?“
Becky stöhnte genervt auf, „Doch, habe ich. Aber ich bin sehr gut darin, dass zu verdrängen.“
„Aber das kannst du nicht ewig.“
„Das werden wir sehen!“, entgegnete Becky, „Und jetzt bitte Themawechsel okay?“
„Okay“, murmelte Milli nur und wischte mit der flachen Hand ein paar Krümel von der Theke, „Hast du dich denn mit Patrick geredet?“
Becky riss die Augen auf und blickte Milli fassungslos an, „Was? Nein! Und das werde ich auch nicht!“
Die Blondine legte den Kopf leicht schräg und murmelte, „Becky ich glaube wirklich, dass es sich bei der Sache nur um ein Missverständnis handelt. Der Typ steht total auf dich, die Art wie er dich immer angeschaut hat, sagt alles.“
„Wenn er mich wirklich so mag, dann hätte er nicht so abfällig geredet“, gab Becky zurück. Auf einmal sah sie, wie sich ein etwas älterer Herr im schicken Samtanzug und mit Aktenkoffer durch die Tisch des Cafés schlängelte und auf die Theke zu kam. Normalerweise hasste Becky es, wenn sie sah, wie sich neue Kunden anbahnten, doch gerade war sie wirklich heilfroh über diesen schnieken Geschäftsmann und sie zischte zu Milli, „Wir haben einen Kunden.“
Kopfschüttelnd trat Milli an die Kasse und setzte dann aber ihr wie immer freundliches und höfliches Kellnerinnengesicht auf, „Guten Tag der Herr! Was darf es für Sie sein?“
„Einen Latte Macchiatto bitte“, orderte der Hugh Grant ähnliche Mann an. Milli tippte in die Kasse ein und kassierte ab, „Sie können sich schon einmal setzen, wir bringen es an Ihren Tisch.“
Der Geschäftsmann zog von dannen und Milli wandte sich um, um das Getränk zuzubereiten, doch Becky fragte, „Ich mach’s schon. Was bekommt er?“
„Einen Milchkaffee“, sagte Milli ein wenig erstaunt über dieses Entgegenkommen von Becky. Während diese das Getränk zubereitete, versuchte Milli noch einmal wegen der Sache mit Patrick gut auf sie einzureden. Doch das Mädchen mit dem dunkelblonden Haar reagierte gar nicht darauf, sondern schüttete höchst konzentriert die Milch in die Tasse. Milli sah ein, dass es keinen Sinn machte und sie gab auf. Becky brachte währenddessen den Milchkaffee zu dem Mann im Anzug, der mittlerweile eine Zeitung aufgeschlagen hatte.
„So bitte schön!“, sagte Becky mit einem engelsgleichen Lächeln, als sie die weiß-rote Tasse auf den Tisch stellte. Becky war schon auf dem Weg zurück hinter die Kasse, da ertönte hinter ihr auf einmal die Stimme des Mannes, „Hey! Ich hatte einen Latte Macchiato bestellt und keinen Milchkaffe!“
Perplex drehte Becky sich zu ihm um und sagte, „Sind Sie… Sind Sie sicher?“
„Natürlich bin ich mir sicher!“, entgegnete der Herr wütend. Milli bekam die Situation hinter der Kasse mit und eilte sofort herbei um ihrer Freundin zu helfen.
„Du hast zu mir gesagt, dass er einen Milchkaffee möchte!“, rechtfertigte sich Becky sofort, als die Blondine neben ihr zum Stehen kam. Milli hob entschuldigte sich, „Ja das stimmt! Das tut mir schrecklich leid, das war mein Fehler. Ich habe meiner Kollegin ausversehen die falsche Bestellung durchgegeben. Sie bekommen sofort ihren Latte Macchiatto und als Entschädigung auch gerne einen Muffin, wenn sie möchten.“
Der Mann im Anzug hob nur beschwichtigend die Hand, „Nein ist schon in Ordnung. Solange ich meinen Latte Macchiatto bekomme, bin ich zufrieden.“
„Selbstverständlich!“, sagte Milli höflich, während sie das Falschgetränk vom Tisch nahm. Gemeinsam gingen die Mädchen zurück zur Theke und Becky murmelte, „Toll, jetzt hätte ich wegen dir fast noch Ärger bekommen.“
„Ja aber nur fast. Ich hätte auch lügen können, dann hättest du wirklich den Ärger für etwas bekommen, was du gar nicht falsch gemacht hast. Aber manchmal muss man eben zu seinen Fehlern stehen“, belehrte Milli ihre Mitarbeiterin. Becky verstand natürlich sofort, worauf Milli anspielte und sie sagte, „Hast du mir jetzt etwa gerade mit Absicht das falsche Getränk gesagt um mir diese Moralpredigt halten zu können?“
„Nein, das war gerade wirklich nur ein Versehen. Aber irgendwie doch ein passendes für deine Situation, findest du nicht?“, entgegnete Milli und hob mahnend die Augenbrauen. Becky sagte nichts dazu, sondern räumte beleidigt die Spülmaschine ein.

Jess war gerade dabei die ersten Klamotten aus ihrem Schrank zu räumen, die sie mit auf ihre große Reise nehmen würde, als es klingelte. Ein wenig gestresst sprang sie über den Klamottenhaufen am Boden und öffnete die Haustür. Für einen kurzen Augenblick hatte sie die Befürchtung, es wäre Isabell, aber diese war es nicht. Jess hätte wohl wirklich mit jedem gerechnet, mit jedem, außer der Person, die tatsächlich vor der Tür stand.
"Mom? Was willst du denn hier?", fragte das Mädchen mit den saphirblauen Augen und blickte ihre Mutter einen Moment lang total entgeistert an. Monika Dittmann, die ihr Haar wie üblich streng zu einem Dutt gebunden hatte, hielt einen völlig durchnässten Regenschirm in der Hand und lächelte ihre Tochter an, "Ich wollte kurz mit dir reden."
Jess hielt sich an der Tür fest und sagte hektisch, "Muss das jetzt sein? Ich bin gerade mitten am Packen und habe noch einiges vor mir."
Ihre Mutter blickte sie mit einer Mischung aus Strenge und Bitten an, "Es ist wichtig."
Einen Moment lang zögerte Jess, dann aber seufzte sie und hielt ihrer Mutter die Tür auf, "Na gut, komm rein."
Frau Dittmann streifte sich die Schuhe am Abtreter ab und trat in die Zwei-Zimmer-Wohnung. Während sie sich den roten Regenmantel auszog, trat Jess nach wie vor ein wenig verunsichert über den so spontanen Besuch zum Schlafzimmer und schloss die Tür. Ihre Mutter sollte das Klamottenchaos nicht sehen, sonst hätte sie nur wieder gemeckert.
"Möchtest du vielleicht einen Kaffee oder etwas anderes?", fragte Jess aufmerksam und Frau Dittmann lächelte müde, "Ja, ein Kaffee bei dem kalten Wetter wäre genau das Richtige."
"Dann mach ich dir mal einen."
Mutter und Tochter gingen in das weitläufige Wohnzimmer. Das Erste, das einem wohl auffiel wenn man dieses betrat, war der riesige Flachbildfernseher an der Wand. Ihm gegenüber stand eine große, Ledereckcouch, auf der sich Jess nach anstrengenden Arbeitstagen genüsslich breit machte und sich von der Mattscheibe berieseln ließ. Das Weiß der Couch und des Teppichs, auf welchem diese stand, harmonierte wunderbar mit dem dunkelbraunen Boden und dem Ebenholzfarbenen Schreibtisch. Der Blick von Monika fiel auf eine Bilderserie, die über diesem hing und sie sagte, "Die ist aber schön. Hast du diese Bilderreihe schon länger?"
"Die hängt da schon, seitdem ich eingezogen bin", entgegnete Jess trocken.
"Ehrlich?", hakte ihre Mutter verwundert nach und lachte dann, "Ich bin wohl schon ewig nicht mehr hier gewesen, dass ich das jetzt durcheinander bringe!"
Natürlich wusste Jess, dass ihre Mutter mit diesem Scherz die Situation nur auflockern wollte und sie zog ihre Mundwinkel angestrengt nach oben.
Genau dreimal hatte ihre Mutter sie in den knapp zwei Jahren, seitdem sie hier wohnte besucht. Dreimal. Das erste Mal war knapp einen Monat nach der offiziellen Einweihungsparty gewesen. Da war sie auch nur der Höflichkeit wegen gekommen. Das zweite Mal war letztes Jahr an Weihnachten, als sie mit Ralf im Schlepptau kurz vorbei gekommen war um auch ihrer einzigen Tochter ein Geschenk vorbei zu bringen. Das war auch das erste Mal, dass Ralf die Wohnung gesehen hatte. Oder zumindest den Flur. Hereingekommen waren die Beiden nämlich nicht. Nicht, dass Jess sie nicht herein gebeten hätte, doch ihre Mutter musste so schnell wie möglich zurück nach Hause, da am Abend die Verwandten zum Essen kamen und sich ein Weihnachtsbraten nun mal nicht selbst zubereitete. Und das dritte Mal war, als die Waschmaschine im Hause der Dittmanns aufgrund von Kalk den Löffel abgegeben hatte und Frau Dittmann daraufhin die Maschine ihrer Tochter benutzen musste.
Durch das Wohnzimmer gelang man geradewegs in die kleine aber feine Küche. In dieser schmiss Jess die Kaffeemaschine an und holte eine Tasse für ihre Mutter und sich selbst aus den Hängeschränken über der Küchenzeile. Die Stille zwischen den Beiden wurde lediglich durch das Mahlen der Kaffeebohnen unterbrochen und wirkte daher nicht ganz so unangenehm. Jess reichte die erste Tasse ihrer Mutter, da sie wusste, dass diese ihn schwarz trank. Sie selbst hingegen gab noch etwas Milch und Zucker hinein. Als sie die heiße Tasse in die Hand nahm, fühlte sie für den Bruchteil einer Sekunde den brennenden Schmerz an ihrem Bauch, nachdem Isabell sie letztens mit dem brühen heißen Kaffee beschüttet hatte.
Die beiden nahmen auf der eleganten Eckcouch Platz, mit gebührendem Abstand voneinander. Frau Dittmann nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und Jess blickte nach links raus auf den Balkon, auf dem wieder leichte Regentropfen niederprasselten. Dann wandte sie sich an ihre Mutter, "Also, was gibt es denn so wichtiges zu besprechen?"
Frau Dittmann hustete kurz, dann stellte sie ihre Tasse sorgsam auf den Glastisch. Mit ihren erschöpften braunen Augen blickte sie ihr Gegenüber an und atmete tief durch, "Es geht um deine Reise in die USA."
Sofort verdrehte Jess die Augen, "Fang' nicht wieder damit an! Ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass ich das durchziehe und du mich nicht umstimmen kannst!"
"Das weiß ich. Und darum geht es mir gar nicht", antwortete ihre Mutter ruhig und Jess fragte verwundert, "Um was dann?"
Die Mundwinkel von Frau Dittmann fielen noch ein Stückchen weiter runter, als sowieso schon. Mit trockenem Mund zwang sie sich schließlich zu einer Antwort, "Es geht um deinen Vater."
Damit hatte Jess nun gar nicht gerechnet. Für einen Moment war sie erstarrt und schaute ihre Mutter skeptisch an. Diese fuhr fort, "Da ich dich nicht davon abhalten kann, zu ihm zu fliegen, gibt es da etwas, dass du wissen solltest."
Gebannt lauschte Jess den Worten ihrer Mutter und war immer noch verwirrt um was es gerade ging. Hatte ihre Mutter etwa die Adresse ihres Vaters und würde sie ihr, aufgrund der Tatsache, dass sie sie sowieso nicht aufhalten konnte abzureisen, aushändigen? Das hätte ihr jedenfalls eine Menge Arbeit erspart. Da Frau Dittmann nicht von sich aus fortfuhr, stachelte Jess sie an, "Was sollte ich wissen?"
Die Frau mit dem so streng nach hinten geknoteten Haar begann auf einmal zu lächeln und tätschelte ihrer Tochter den Oberschenkel, "Oh Jessi, meine kleine Jessi. Ich habe all die Jahre lang ein fürchterliches Geheimnis mit mir rumgetragen. Ich hatte immer gehofft, dass ich es nie irgendwem erzählen muss, vor allem nicht dir. Aber ich will es nicht riskieren, dass du deinen Vater womöglich wirklich findest und es von ihm erfährst."
Jess, die keine Ahnung hatte, was ihre Mutter da für ein wirres Zeug redete, bekam es langsam mit der Angst zu tun. Sie sah, wie der Frau die Tränen über die Wange liefen und sie begann zu schluchzen, "Mom, was ist denn?"
Mit zittrigen Händen wischte sich Monika die Tränen aus dem Auge und setzte erneut an, "Du hast dich immer gefragt, warum dein Vater sich nie bei dir gemeldet hat."
Ihre Tochter nickte.
"Das liegt daran Jessi, weil er nicht weiß, dass es dich gibt."
Das Mädchen mit den saphirblauen Augen verstand nicht, was ihre Mutter meinte und sie saß einen Moment einfach nur regungslos da, in der Hoffnung es würde klick machen. Doch das geschah nicht, „Wie, wie meinst du das? Du hast mir doch immer erzählt, dass er wusste, dass du schwanger warst?"
Ein neuer Schluchzer erfasste Frau Dittmann und sie nickte schuldbewusst, "Ja, ja er wusste es. Ich hatte es ihm gesagt. Oh Gott Jessi."
Monika machte eine kurze Pause, dann nahm sie all ihre Kraft zusammen, "Er wusste, dass ich schwanger war. Aber weil er vor hatte in die USA zu ziehen, habe ich ihm ein Ultimatum gestellt. Ich habe ihm damit gedroht, abzutreiben, wenn er nicht bei mir bleibt und mich unterstützt.“
„Du hast was?!“, platzte es entgeistert aus Jess heraus und ihre Mutter entgegnete harsch, „Ich war noch nicht dafür bereit Mutter zu werden. Und er wollte einfach abhauen. Was hätte ich tun sollen?"
Mit jedem weiteren Wort, das ihre Mutter von sich gab, drehte sich Jess der Magen mehr um. Sie hatte das Gefühl, innerlich zu fallen und es hörte nicht auf. Die Tasse Kaffee, die sie in Händen hielt brannte, doch Jess realisierte den Schmerz nicht. Dafür war sie emotional zu ohnmächtig. Plötzlich drängte sich Jess eine Frage auf, vor deren Antwort sie sich fürchtete. Doch sie musste sie stellen. Sie musste die Wahrheit wissen, auch wenn es diese sie zutiefst treffen könnte. Aber wenn sie es nicht erfuhr, dann würde sie diese Frage begleiten wie ein böser Fluch. Mit Tränen in den Augen und Zittern in der Stimme fragte sie, "Wolltest du... wolltest du wirklich abtreiben?"
Frau Dittmann blickte ihre Tochter mit verweinten Augen an und flüsterte beschämt, "Ich war jung und verzweifelt, Jessi. Aber ich konnte es einfach nicht. Es ging nicht."
Für eine Sekunde hatte Jess das Gefühl zu verblassen. Aus der Welt zu verschwinden. Dann überkam sie eine seltsame Panik und das Gefühl sich übergeben zu müssen. Ihr wurde klar, dass sie vielleicht gar nicht hier gesessen hätte, wenn nicht irgendein Gedanke oder Gefühl diese Frau vor ihr davon abgehalten hätte ihr Kind zu töten. Jess hatte die seltsame Vermutung gehabt, dass ihre Mutter sie wohl eigentlich nicht gewollt hatte. Doch das sich diese kindische Vermutung nun als Wahrheit entpuppte, das ließ irgendetwas in ihrem Inneren zerbrechen.
"Warum hast du ihm nie die Wahrheit gesagt?", fragte Jess empört, der auf einmal jegliche Emotionen von Wut, über Trauer und Verzweiflung hochkamen und sich miteinander vermischten. Monika Dittmann schüttelte den Kopf, "Mein Ultimatum stand. Und als er sich gegen mich entschied, da habe ich mich einfach nur verraten gefühlt. Ich wollte, dass er ein schlechtes Gewissen hat. Ich wollte dass er leidet, genauso wie er mich hat leiden lassen. Ich wollte, dass er mit seinem Egoismus nicht so einfach davon kommt."
"Was bist du nur für ein Mensch?", brach es aus Jess heraus, die nichts anderes mehr konnte als geistesentsetzt da zu sitzen, "Du hast das Leben eines Mannes kaputt gemacht! Nicht er war egoistisch sondern du! Ich kann verstehen, dass es dich gekränkt hat, dass er einfach gegangen ist, aber ihn im Glauben gehen zu lassen, dass er für eine Abtreibung verantwortlich ist, die nie stattgefunden hat? Schämst du dich nicht?"
Jess' Mutter weinte bitterlich und hoffte auf ein wenig Mitleid, "Es tut mir Leid. Hör zu Jessi, ich weiß, du und ich, wir hatten nie einen guten Draht zueinander, das ist mir bewusst. Aber trotz alle bist du meine Tochter und deshalb wusste ich, dass ich dir das sagen muss. Ich kann verstehen wenn du wütend bist."
Mit tiefster Verachtung blickte Jess auf ihre Mutter und sagte dann kühl, "Du hast mich mein Leben lang was meinen Vater angeht angelogen. Das verzeih ich dir nie."
Frau Dittmann verzog das Gesicht und legte ihre Hand erneut auf Jess Oberschenkel. Diese riss die Hand von sich und zischte, "Fass mich nicht an!"
Rasch stand Jess auf und ging mit dem Daumen am Mund nervös ein paar Schritte auf und ab. Ihre Mutter schaute währenddessen geistesabwesend auf ihre Tasse. Dann schlug Jess die Hände über dem Kopf zusammen und wirbelte herum, "Verschwinde. Ich ertrag deine Anwesenheit nicht."
Zunächst verharrte Monika noch auf der Couch, dann stand sie jedoch bereitwillig auf und wollte noch die Tasse zurück in die Küche tragen, doch Jess nahm sie ihr eilig aus der Hand, "Passt schon. Die räume ich weg. Schau einfach, dass du hier raus kommst."
Das Mädchen mit dem aschschwarzen Haar schob ihre Mutter regelrecht in den Hausflur, während diese die letzten verzweifelten Versuchte unternahm um ihre Tochter nicht komplett zu verlieren. Doch diese hörte nicht auf das Bitten und Flehen. Stattdessen stopfte sie ihrer Mutter deren rote Regenjacke in die Arme, drückte ihr den Schirm in die Hand und schubste sie durch die geöffnete Türe.
"Jessi, bitte! Es tut mir so leid! Ich wünschte ich könnte es rückgängig machen!", weinte die Frau, doch Jess schüttelte nur den Kopf und knallte ihr die Tür hart vor der Nase zu. Dann war Stille. Von einer Sekunde auf die andere hatte sich ihr Leben verändert. Auf einmal war alles was sie bis dahin gedacht und gefühlt hatte wie ausradiert. Wie benebelt lehnte sich Jess mit dem Rücken an die Wand und atmete schwer ein und aus. Dann brach alles aus ihr heraus und Tränen überströmt glitt sie an der Wand herab und blieb kauernd auf dem kalten Holzboden sitzen. Ihr Leben lang, hatte ihre Mutter sie angelogen. Ein Leben lang hatte Jess ein falsches Bild von ihrem Vater gehabt. Das Bild eines egoistischen Mannes, der keinerlei Interesse an seinem Eigen Fleisch und Blut hatte. Derweil war er unschuldig. Unwissend. Das unwissende Opfer einer Lüge. Genauso wie sie selbst.

Mit verschränkten Armen saß Hanna auf ihrem Schreibtischstuhl und starrte leer auf das geöffnete Worddokument auf ihrem Laptop. Sie hatte mit sich selbst vereinbart, dann zu ihren Eltern in die Küche zu gehen um mit ihnen zu reden, sobald sie mit der Textstellenanalyse fertig war. Dies war sie schon seit einer ganzen Weile, aber nach dem letzten Punkt, den sie gesetzt hatte, hatte Hanna sich nicht von ihrem Schreibtisch weg bewegt.
Eine Sekunde nach der anderen, zögerte sie das hinaus, was sie sich nicht vermeiden ließ. Ihr Herz klopfte stark in ihrer Brust und sie blinzelte kurz auf ihre schwarze Armbanduhr. Seit zwanzig Minuten saß sie also schon da und tat nichts weiter als zu atmen. In den letzten beiden Tagen hatte sie viel darüber nachgedacht, wie sie ihre Eltern am besten über ihre Sexualität aufklären sollte. Im Internet hatte sie wirklich geniale Einfälle bezüglich dem Coming-Out gesehen: Ein Junge hatte seiner Familie einen Kuchen in den Regenbogenfarben gebacken, ein anderer hatte seinem Jack Russell Terrier einen Brief umgebunden, mit der Aufschrift „I love my gay owner“ oder wiederum ein anderer, hatte ganz klipp und klar gesagt, was Sache ist. In allen drei Fällen war die Reaktion der Familien positiv ausgefallen, was Hanna vor ihrem Laptop zum Grinsen gebracht hatte.
So sehr hoffte sie, dass es auch bei ihr so gut verlaufen würde. Doch um das herauszufinden musste sie es endlich in Angriff nehmen. Egal auf welche Art und Weise, es musste endlich auf den Tisch. Luisa war gerade noch bei einer Klassenkameradin, würde aber spätestens zum Abendessen wieder da sein. Hanna hatte also auch nicht mehr allzu viel Zeit um in Ruhe mit ihren Eltern zu reden. Sie holte noch einmal tief Luft, dann erhob sie sich mit schweren Gliedern von ihrem Schreibtisch und schritt zur Tat.
Noch nie kam ihr der Weg von ihrem Zimmer in die Küche so lange vor, wie in diesem Moment. Der köstliche Geruch von Lasagne erfüllte bereits die Luft und mit schweißigen Händen verharrte Hanna einen Moment im Türrahmen der Küchentür. Ihre Mutter stand am Herd und schälte gerade fleißig die Gurken für den Beilagensalat, während ihr Vater am Tisch interessiert in die Zeitung vertieft war. Nie zuvor hatte Hanna ihren Herzschlag so sehr wahr genommen wie in diesem Moment. Dann gab es kein Zurück mehr, „Hey ihr Zwei. Ich muss mal mit euch reden.“
Das Mädchen mit dem hellbraunen Haar setzte sich auf die Eckbank, auf der sie mit angezogenen Knien sitzen blieb. Ihr Vater horchte auf und wandte sich dann von der Druckschwärze an seine Tochter, „Was gibt es denn Schatz?“
Auch Hannas Mutter drehte sich zum Tisch, damit sie trotz des Gurke Schälens ihrer Tochter ihre Aufmerksamkeit schenken konnte. Dieser stand der Mund leicht offen da sie so schwer atmete, doch das merkte sie gar nicht. Hanna seufzte und sagte dann mit leicht zittriger Stimme, „Ähm. Ich muss euch was gestehen. Ich hab euch die letzten Wochen über angelogen. Donnerstags bin ich nicht bei Miri um Mathe zu lernen. Ich bin gar nicht bei Miri.“
„Wo bist du denn dann?“, fragte Frau Reiser ein wenig verwirrt.
„Ich fahr jeden Donnerstagabend in die Stadt und treffe mich da mit ein paar Freundinnen.“
Frau Reiser hob verwundert die Augenbrauen und während sie die Gurke her schnitt, fragte sie skeptisch, „Aha und was sind das für andere Freundinnen, von denen du uns nicht erzählen kannst. Oder willst?“
Hanna blickte ein wenig beschämt auf ihre Füße, die trotz der weinroten Kuschelsocken mittlerweile zu zwei Eisklumpen Größe Achtundreißig erstarrt waren.
„Das bringt mich zum eigentlichen Thema“, begann Hanna und merkte wie ihr Tränen in die Augen schossen. Warum verstand sie allerdings nicht, immerhin war das was sie ihren Eltern zu sagen hatte nichts weswegen man Weinen musste. „Wie euch wahrscheinlich schon aufgefallen ist, habe ich noch nie einen Freund gehabt…“
Ihr Vater lachte amüsiert auf und gluckste, „Ja, nicht das ich wüsste. Außer du hast mal heimlich einen mit Heim geschleppt und wir haben davon nichts mitbekommen!“
Auch Hanna entglitt ein kurzes gedrücktes Lächeln „Nein Papa, das habe ich nicht.“
Sie war achtzehn Jahre alt, doch in diesem Moment saß sie auf dieser Eckbank zusammen gekauert wie ein kleines Kind, dass ihren Eltern etwas Schlimmes beichten musste. Sie wusste, dass es nichts Schlimmes war, aber in diesem Moment fühlte es sich doch genau so an. Ihr Herz hämmerte so laut in ihrer Brust, dass sie fürchtete jeden Moment zu hyperventilieren. Genau wie damals bei Miri stieg ihr die Hitze in den Kopf und auf ihren Brustkorb legte sich ein stechendes Gewicht. Sie spürte ein wenig Schweiß auf ihrer Stirn und merkte eine leichte Übelkeit in sich aufsteigen. Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen „Nein, ich hatte noch nie einen Freund und das wird wahrscheinlich auch nie der Fall sein, denn… ich… ich mag Mädchen.“
„So?“, machte ihr Vater ein wenig verwundert. Frau Reiser schaute nicht weniger überrascht drein, „Bist du sicher?“
Hanna hatte keine Ahnung warum, aber wieder spürte sie wie sich ein neuer Schwall von Tränen anbahnte, aber tapfer schluckte sie ihn herunter und antwortete bestimmt „Ja. Da bin ich mir sicher. Ich habe immer gehofft, dass irgendwann der Funke überspringt, aber… nein. Ich weiß nicht, wie es in der Zukunft sein wird, ob ich mich nicht doch einmal in einen Mann verlieben werde, aber bis jetzt ist das noch nie passiert. Und ich bin mir sehr sicher, dass es auch nie passieren wird.“
Einen Augenblick lang herrschte Stille und das Einzige was man vernahm war die Küchenuhr und das dumpfe Summen des Ofens, in dem die Lasagne bereits goldbraun vor sich hin brutzelte. Dann plötzlich begann der gemütliche Brillenträger über beide Ohren zu strahlen und wandte sich an seine Frau, „Na was sagt man dazu? Dann werden wir wohl irgendwann eine Schwiegertochter haben!“
Hanna verstand nicht und runzelte die Stirn. „Heißt das…“ begann sie und konnte die Tränen nun nicht mehr zurückhalten, „Das ist okay für euch? Ihr seid nicht sauer oder enttäuscht oder so?“
„Hanna, Liebes, warum sollten wir das sein? fragte ihre Mutter verwirrt und trat besorgt auf sie zu „Weil du Mädchen lieber magst?“
Hanna zuckte nur mit den Schultern und strich sich mit den Fingern die verwischte Schminke unterhalb der Augen weg. Frau Reiser nahm ihre erwachsene Tochter fürsorglich in den Arm und drückte sie fest an sich, „Du bist unsere Tochter Hanna und wir werden dich immer lieben, genauso wie du bist!“
Auch Herr Reiser blickte seine Tochter verständnisvoll an, „Ganz genau. Und dass du den Mut hast und uns das erzählt, das macht uns sehr, sehr stolz.“
Hanna hatte keine Ahnung, was genau sie sagen oder fühlen sollte. Sie war einfach nur glücklich und erleichtert, aber trotzdem noch aufgewühlt und ängstlich zugleich. Ihre Mutter griff nach einem Taschentuch auf dem Fensterbrett, während Hanna versuchte die Tränen von ihrem mittlerweile roten Gesicht zu wischen. Als sie sah, mit was für einem stolzen Lächeln ihr Vater sie anblickte, atmete Hanna erleichtert auf und konnte selbst lächeln. Ihre Mutter reichte ihr das Taschentuch, setzte sich zu ihr auf die Eckbank und streichelte ihr den Rücken.
„Man, bin ich froh, dass das endlich raus ist!“, sagte Hanna nach ein paar Augenblicken der Stille und ihre Eltern lachten. Ihre Mutter fragte, „Und was genau hat es jetzt mit diesen Freundinnen auf sich, mit denen du dich dann wirklich donnerstags triffst?“
Hanna grinste verlegen, „Die sind auch alle lesbisch oder bi. Wir treffen uns immer in der Stadt, weil es da einen ganz tollen Treffpunkt für Mädchen wie uns gibt. Aus diesem Grund konnte ich euch nicht sagen, wo ich wirklich hingehe. Ich war noch nicht bereit dazu.“
Herr Reiser nickte verständnisvoll, „Du hättest nie ein Geheimnis daraus machen müssen. Für uns ist das kein Problem.“
Hannas Mutter hob auf einmal skeptisch die Augenbrauen und fragte neugierig, „War Miri denn in das Ganze eingeweiht?“
Ihre Tochter verzog scherzhaft die Miene, „Ist das dein Ernst? Natürlich war Miri eingeweiht!“
Selbst Hannas Vater lachte, „Also Evi, das hättest du dir ja wohl denken können! Du kennst doch die zwei Grazien! Die halten bei sowas immer zusammen!“
Frau Reiser zuckte mit den Schultern, obwohl sie natürlich wusste, dass ihr Mann Recht hatte. Hanna, die ebenfalls kurz grinsen musste, blickte bei diesen Worten ihres Vaters aber schnell traurig drein. Er hatte Recht: Miri und sie hatten immer zusammen gehalten und Hanna wollte ihre beste Freundin nicht noch mehr verlieren, als sowieso schon. Bevor ihre Stimmung jedoch von der puren Erleichterung in Trauer über die momentan so schlecht gestellte Freundschaft zwischen ihr und Miri kippen konnte, fragte ihr Mutter interessiert, „Erzähl doch mal! Wie sind die Mädchen mit denen du dich da triffst, denn so?“
Mit so viel Interesse seitens ihrer Eltern hatte Hanna nicht gerechnet und einen Moment blickte sie ihre Mutter verdattert mit ihren grünen Augen an. Relativ schnell wusste Hanna, wie sie diese Frage am besten beantworten konnte und sie sagte, „Einen Moment! Ich hole mein Handy, da habe ich Bilder von ihnen drauf!“
In den letzten paar Wochen hatte Hanna immer mal wieder Fotos von sich und den Mädels aus dem LLoft gemacht oder sich ein paar besonders schöne einfach aus Facebook abgespeichert. Stolz zeigte Hanna ihren Eltern nun die Bilder von der klugen Charly, der taffen Vanny und ihrer rockigen Freundin, der zuckersüßen Milli, der manchmal etwas tollpatschigen Becky und natürlich der so atemberaubenden Fiona. Während ihre Eltern sich durch die Bildergalerie klickten, erzählte ihnen Hanna zu jedem der Mädchen die wichtigsten Anekdoten und wie genau sie überhaupt in dieses LLoft gekommen war. Bei dem Foto eines Mädchens hielt ihre Mutter kurz inne und fragte, „Ist das nicht die, die dich letztens nach Hause begleitet hat?“
Sie hielt ihrer Tochter das Handy hin auf deren Bildschirm Hanna das vertraute Antlitz von Jess erkannte. Hanna grinste, „Ja, genau das war Jess. Wie du dir vermutlich denken kannst, ist sie gar keine Freundin von Miri. Die beiden kennen sich gar nicht.“
Frau Reiser musterte Jess einen Moment von oben bis unten, dann wandte sie sich mit einem neugierigen Lächeln an Hanna, „Ist das deine Freundin?“
Kurz fror Hanna das Grinsen auf ihrem Gesicht fest und sie spürte wie sie leicht rot wurde. Mit dieser Vermutung ihrer Mutter hatte sie nun so gar nicht gerechnet! Sie lachte kurz und sagte dann, „Nein. Jess ist nur eine Freundin. Aber eine sehr gute.“
Hannas Mutter verstand und nickte. Dann klickte sie sich weiter durch die Bilderreihe.

Fortsetzung Part 2...




copyright © by cappuccino007. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.





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